Was wirklich los ist – Einblicke in den Klinikalltag

Fachkräftemangel? Nein – das eigentliche Problem liegt woanders.

„Die Fallzahlen sind zu niedrig.“ Wieder dieser Satz – im monatlichen Steuerungsgespräch. Der Chefarzt liefert prompt die Erklärung: „Wir haben einfach zu viele unbesetzte Stellen.“

Die Runde nickt. Fachkräftemangel eben. Fall abgeschlossen – oder?


Doch dann – ein ganz anderes Bild

Ein paar Tage später, bei einer Routinerunde mit dem Personalrat, ein Satz, der hängen bleibt: „Die Stimmung auf Station X ist im Keller. Die jungen Pflegekräfte gehen schnell wieder. Die Assistenzärzt:innen verschwinden, bevor sie richtig anfangen.“

Ich will es verstehen. Also hospitiere ich – unauffällig, offen, auf Augenhöhe. Ich begleite Pflegekräfte, Assistenzärzt:innen, Oberärzt:innen. Ich höre zu.

Ich höre zu. Ich schaue hin. Ich frage nicht sofort – ich lasse den Alltag für sich sprechen.


Nach einer Woche ist das Bild klar – und ernüchternd:

  • Kein strukturiertes Einarbeitungskonzept
  • Junge Ärzt:innen starten direkt auf Intensivstation oder Notaufnahme – ohne Begleitung
  • Die Pflege ist frustriert, weil die ärztliche Seite unvorbereitet kommt
  • Die Stimmung kippt, bevor überhaupt Teamgefühl entsteht

Das eigentliche Problem: Überforderung statt Entwicklung

Die Folge? Niemand wächst in seine Rolle hinein – viele gehen wieder. Nicht wegen der Bezahlung. Nicht wegen der Arbeitszeit. Sondern weil sie sich alleingelassen fühlen.


Die Lösung: Einarbeitung neu denken

Gemeinsam mit dem Chefarzt, der Pflegeleitung und dem Team entwickeln wir ein neues Modell:

✅ Begleitung durch erfahrene Oberärzt:innen zunächst auf der Normalstation

✅ Intensivstation frühestens nach 6 Monaten – mit Supervision

✅ Pflege wird aktiv in die Einarbeitung einbezogen:

  • Einführung in Geräte, Abläufe – und in den gelebten Stationsalltag.
  • Austausch zu Herausforderungen
  • Aufbau von gegenseitigem Verständnis

Anfangs ist es holprig. Die Dienstpläne sind enger.

Aber nach einem Jahr zeigt sich:

  • Stabile Dienstpläne
  • Weniger Fluktuation
  • Höhere Versorgungsqualität – und mehr Fälle
  • Spürbar bessere Zusammenarbeit

Führung neu denken

Auch auf Leitungsebene verändert sich etwas: Die monatlichen Steuerungsgespräche enthalten jetzt neue Kennzahlen:

📊 Personalfluktuation

📊 Krankheitsstände

📊 Status der Einarbeitung

Das macht Führung greifbar – und ermöglicht rechtzeitiges Handeln. Nicht erst, wenn die Fallzahlen nicht mehr stimmen.


Die eigentliche Wurzel: ein überholtes Führungsverständnis

Der Chefarzt war nicht untätig – aber gefangen in einem Bild von Führung, das er selbst verinnerlicht hat: „Nur wer dem Druck standhält, ist geeignet.“

Das war lange das unausgesprochene Auswahlprinzip: Wer bleibt, ist „stark genug“. Wer geht, war eben „nicht belastbar“. Doch was übersehen wurde: Menschen werden nicht besser in der Versorgung Schwerkranker, wenn sie dauerhaft überfordert sind. Im Gegenteil – sie verlieren Vertrauen, Kraft und Motivation.


In der Wissenschaft heißt das: psychologische Sicherheit

Psychologische Sicherheit bedeutet: Menschen trauen sich, Fragen zu stellen, Fehler einzugestehen oder um Hilfe zu bittenohne Angst vor negativen Konsequenzen.

  • Sie haben keine Angst, als inkompetent zu gelten.
  • Sie müssen sich nicht beweisen, sondern dürfen lernen.
  • Sie erleben ihre Arbeit als sicher, auch wenn sie herausfordernd ist.

💬 „Psychologische Sicherheit ist die Überzeugung, dass die Arbeitsumgebung sicher ist, um zwischenmenschliche Risiken einzugehen.“Amy Edmondson, Harvard Business School

In Teams mit hoher psychologischer Sicherheit:

  • werden mehr Ideen geteilt
  • sinkt die Fehlerquote
  • bleiben Mitarbeitende länger
  • verbessert sich die Teamleistung – messbar

Genau das haben wir gesehen: Erst als junge Ärzt:innen und Pflegekräfte ohne Angst – und mit der nötigen Kompetenz – handeln konnten, wuchs Vertrauen. Und mit dem Vertrauen kam die Leistung.


🧩 So schaffen Sie psychologische Sicherheit im Team

1. Fehler als Lernchance kommunizieren → Nicht „Was ist schiefgelaufen?“, sondern: „Was können wir daraus lernen?“

2. Unsicherheiten sichtbar machen → Führungskräfte dürfen auch mal sagen: „Ich weiß es gerade auch nicht genau – was meint ihr?“

3. Fragen aktiv einladen – nicht nur zulassen → „Gibt es etwas, das ich übersehen habe?“ ist stärker als „Hat noch jemand eine Frage?“


Was bleibt – und was wir uns fragen sollten

  • Was macht es mit einem jungen Menschen, der allein vor einem kritisch kranken Patienten steht – ohne Rückhalt, ohne Anleitung?
  • Was macht es mit einem Team, das täglich die Fehler anderer ausbügelt, aber nie gehört wird?
  • Und was macht es mit einer Klinik, wenn niemand sich traut, zu scheitern – weil Fehler nicht als Teil des Lernens gesehen werden?

Psychologische Sicherheit ist kein „weiches“ Thema. Sie entscheidet, ob Menschen bleiben – oder gehen.


👉 Kommt Ihnen das bekannt vor?

Was tun Sie konkret, um Chefärzt:innen auf ihre Führungsaufgabe vorzubereiten?

Schreiben Sie mir – ich freue mich auf Ihre Perspektive.

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